Disclaimer: Erstveröffentlichung auf www.perspective-daily.de (7. Juli 2020)
Ob es tatsächlich wirkt, muss die Wissenschaft erst noch zeigen.
5% aller Kinder und Jugendlichen haben es. Rund 2% aller Erwachsenen auch.1 Symptome zeigen sich in unkontrollierten Ausbrüchen, Streit in der Familie und nicht zu beherrschendem Chaos in alltäglichen Situationen: eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS).
Sie kann, das weiß die Forschung mittlerweile, das Leben stark beeinträchtigen und Chancen in Schule, Lehre und danach vermasseln. Bei manchen Betroffenen ist der Leidensdruck hoch, eine Behandlung unausweichlich.
Medikamente wie Ritalin wirken zwar, haben aber als »Mittel zur Ruhigstellung« keinen guten Ruf.2 Tatsächlich sind Nebenwirkungen häufig, etwa Schlafprobleme, Appetitlosigkeit und depressive Gedanken.
Da liegt die Suche nach Alternativen nahe.
Und tatsächlich hat die Zulassungsbehörde für Arzneimittel (Food and Drug Administration – FDA) der USA nun ein neuartiges Mittel zugelassen, das mit deutlich weniger Nebenwirkungen gegen Symptome helfen soll. Dazu braucht es nur einige Minuten Wirkzeit pro Tag. Nach einem Monat soll es die Aufmerksamkeitsleistung erheblich steigern.3
Doch dabei handelt es sich nicht um eine Pille oder Spritze – sondern um ein Videospiel.

Das erste medizinische Videospiel heißt »EndeavorRx«
Auf einem Tablet rast die Spielfigur auf einer Rennstrecke durch bunte Welten, vorbei an Lava und Wasser. Das Tablet wird dabei wie ein Lenkrad genutzt, um so durch Tore zu fahren, Hindernissen auszuweichen oder Objekte aufzusammeln. Zur Belohnung gibt es Punkte, die neue Welten und Kostüme freischalten. Das Ganze wirkt wie eine Art Mario Kart, eines der beliebtesten digitalen Rennspiele der Welt, nur ohne Gegner.
Doch dahinter steht ein erprobtes Behandlungskonzept: kognitives Training.
Nach diesem Prinzip hat das Digitalmedizinunternehmen Akili Interactive Labs aus den USA das Spiel mit dem Namen EndeavorRx entwickelt.4 Der Spielverlauf ist quasi eine Aneinanderreihung von Reaktions- und Geschwindigkeitsaufgaben, die die Aufmerksamkeit von Nutzer:innen gezielt herausfordern. Der Schwierigkeitsgrad passt sich dabei individuell an, sodass das Gehirn nie unterfordert wird. Doch nach 5 Missionen ist Schluss und das Spiel kann erst am nächsten Tag fortgesetzt werden – eine Sicherungsfunktion gegen Übernutzung. So können Patient:innen auch nicht so lange üben, bis das Spiel keine Herausforderung mehr bietet.5
Und EndeavorRx hat einen weiteren Vorteil gegenüber Medikamenten: Es macht Spaß und motiviert.
Aber wirkt es auch?
Wissenschaftler sagen: Zocken steigert die Aufmerksamkeit
In einer aktuellen klinischen Studie untersuchten Wissenschaftler:innen 348 Kinder mit diagnostiziertem ADHS im Alter von 8–12 Jahren und teilten sie 2 zufälligen Gruppen zu. Die Kinder spielten entweder 5-mal am Tag, 5 Tage die Woche für einen Monat das Spiel EndeavorRx, oder ein digitales Wortspiel, bei dem sie Buchstaben finden und zu Wörtern formen müssen. Vor und nach der Behandlung wurde die Behandlung unter anderem mit dem »Test Of Variables of Attention« (TOVA) gemessen und analysiert.
Im TOVA-Test werden Kurz- und Langzeitaufmerksamkeit und Selbststeuerung in 2 Testabläufen gemessen. In der ersten Hälfte müssen die Teilnehmer:innen über Maus und PC Zielfiguren kennzeichnen, die selten auftauchen. In der zweiten Hälfte wird die Zielfigur häufig eingeblendet und der Teilnehmer muss verhindern, versehentlich falsche Figuren auszuwählen. So werden 4 Parameter gemessen, die einen Index ergeben, der zur ADHS-Diagnose herangezogen wird. Ein Index unter 0 könnte bereits ein Anzeichen für ADHS bedeuten. Personen mit guter Aufmerksamkeitsleistung erreichen bei diesem Test einen Index zwischen +4 und +6.
Das Ergebnis war eindeutig: Die Leistungsfähigkeit der Kinder, die das Videospiel nutzten, stieg im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant. Für die Autor:innen der Studie steht daher fest, dass das Spiel funktioniert. Vor allem sehen sie Vorteile bei den schwachen Nebenwirkungen: Kopfschmerzen oder Frustration traten nur selten auf.6
Das überzeugte auch die Zulassungsbehörde in den USA. Doch es gibt einige Haken, wenn man genauer hinsieht.
- Forschungsqualität: Die Studie7 wurde von Akili Interactive Labs selbst in Auftrag gegeben. Einer der leitenden Wissenschaftler gibt sogar an, Unternehmensanteile zu besitzen – ein deutlicher Interessenskonflikt.
- Alternative Erklärungen: Die Art der Aufgaben aus dem Spiel ähnelt denen aus dem TOVA-Test. Laut Hanna Christiansen, Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Philipps-Universität Marburg, könnten die guten Testergebnisse auch mit dem Lerneffekt zusammenhängen: »Wenn Kinder jeden Tag für 25 Minuten über 4 Wochen hinweg eine Aufgabe üben und dann im Anschluss mit dieser Aufgabe getestet werden, ist zu erwarten, dass sie darin besser werden.«
- Probandenauswahl: Bei der Studie wurden nur Kinder mit ADHS ohne zusätzliche Störungen berücksichtigt. Laut Hanna Christiansen haben »80% der Patient:innen mit ADHS komorbide Störungen.«8 Das bezeichnet Störungen, die zusätzlich zur Grunderkrankung auftreten. Diese Patient:innen sind nicht Teil der Studie, es wurde also nicht untersucht, ob das Spiel bei ihnen anders wirken und vielleicht sogar für andere Risiken sorgen könnte.
Auch die FDA ist noch verhalten und hielt in ihrer Antragsbewilligung fest, dass das Spiel vor allem eine leicht zugängliche, motivierende und effektive Ergänzung für einen umfassenden Behandlungsplan bieten soll. Ein Wundermittel gegen ADHS darf also niemand erwarten. Und die Behörde weist auf andere potenzielle Nebenwirkungen von digitalen Spielen (etwa Bildschirmsucht oder Krampfanfälle in Ausnahmefällen) hin.9
Trotzdem bleibt EndeavorRx das erste digitale Spiel, das auch ein verschreibungspflichtiges Medizinprodukt ist. Aber ist das ein US-Sonderweg oder gilt das auch für Europa?
So stehen bei uns die Chancen für das Zocken auf Rezept
EndeavorRx erfüllt die Sicherheits- und Schutzanforderungen der EU (»CE-Zertifizierung«) und ist damit auch grundsätzlich in Europa im Vertrieb. Ob Krankenkassen in EU-Ländern wie Deutschland aber auch generell die Kosten für das Spiel übernehmen, regelt die Zertifizierung nicht.
Denn »für die Frage der Kostenübernahme ist nicht der EU-Gesetzgeber zuständig, sondern die einzelnen Mitgliedstaaten. Dementsprechend unterschiedlich sind die Regelungen,« erklärt Professor Ulrich M. Gassner, Kodirektor des »Instituts für Bio-, Medizin- und Gesundheitsrecht«.10
Allerdings können mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz, das seit Ende 2019 in Deutschland gilt, digitale Medizinprodukte von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen und vom Arzt verschrieben werden. Und tatsächlich zahlen manche Krankenkassen bereits ein Jahr lang für ausgewählte digitale Gesundheitsanwendungen wie Apps zur Meditation, die kognitivem Training ähneln.11 EndeavorRx müsste also nur vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zugelassen werden und während des ersten Jahres nachweisen, dass das Spiel die Versorgung von Patient:innen bessert.
Das heißt, auch in Europa steht digitalen Spielen als Medizinprodukten seit diesem Jahr eigentlich wenig im Weg. Viele ungeklärte Fragen sind zwar noch offen – und brauchen neue und vor allem unabhängige Studien. Doch EndeavorRx könnte der Startschuss für ein neues Feld alternativer Behandlungsmethoden sein, in dem Potenzial für Menschen mit kognitiven Störungen steckt.
Quellen und weiterführende Links zum Artikel
- Kurzinformation zu ADHS (2019, PDF)
- Das zentrale adhs-netz
- Die Studie, die Grundlage der Zulassung für das Spiel »EndeavorRx« als Medizinprodukt ist (englisch, 2020)
- Hier geht es zur Website von »EndeavorRx«
- Anwendungsanleitung von »EndeavorRx« von »Akili Interactive Labs« (englisch, 2020)
- Hier kannst du die Studie zu »EndeavorRx« einsehen (englisch, 2020)
- Die Studie, die die Grundlage der Zulassung für das Spiel »EndeavorRx« als Medizinprodukt ist (englisch, 2020)
- Vom »Science Media Center Germany« eingeholte Expertenstatements (2020).
- Zulassungsbescheid der »Food and Drug Administration« für das Medizinprodukt »EndeavorRx« (englisch, 2020)
- Vom »Science Media Center Germany« eingeholte Expertenstatements (2020).