Ich springe in den Abgrund, das Timing stimmt nicht. Die Spielfigur Madeline zerplatzt in einer kleinen Animation und ich starte vom letzten Startpunkt neu. Es vergehen nur Sekunden zwischen Videospieltod und Wiedereinstieg. Celeste ist ein Jump ’n‘ Run Spiel, ähnlich wie Super Mario. Ich renne und klettere mit Madeline durch die Spielwelt. Springen, Scheitern und Neustarten, alles passiert im Sekundentakt.
2.823 Mal sterbe ich im Laufe der Spielzeit von 10 Stunden und 52 Minuten. Das heißt, ich scheitere etwa alle 14 Sekunden an der Herausforderung des Spiels. Es bedeutet aber auch, dass ich alle 14 Sekunden einen neuen Versuch wage. Ich fühle mich ungeschickt, ärgere mich über Fehltritte und merke ganz nebenbei, dass ich mich weiterentwickle. Celeste triggert genau das. Ich nutze Fehler, um Erfahrungen zu gewinnen und es besser zu machen.
„Du bist noch nicht so weit.“
Erfolg und Leistung prägen unsere Welt und so „ist Scheitern in gewisser Weise inakzeptabel“, schreiben die Sozialwissenschaftler Oliver Voirol und Cornelia Schendzielorz. Scheitern steht im Schatten des Erfolges. Während Gewinner sich gerne präsentieren, möchten die Verlierer möglichst schnell verschwinden. Doch ohne das mögliche Scheitern gibt es keinen Erfolg. Beides geht Hand in Hand und ist nicht trennbar. Fehler sind also immer möglich. Die gute Nachricht: Wir entscheiden, wie wir damit umgehen.
So wie im Videospiel Celeste. Der Videospieltod unterbricht das Spiel. Es stellt uns vor eine Aufgabe und wir scheitern. Wir sind noch nicht so weit. Was nun? Die einfache Antwort: Weiterspielen! Zu scheitern bedeutet zwar erstmal „Game Over – Spiel vorbei“, doch im Grunde ist es nur der Übergang zu einem neuen Versuch.
Die Momente des Scheiterns: Irritation, Reflexion, Transformation
In Videospielen zu sterben, hat in der Regel keinen Bezug zum Sterben in der Realität. Im Grunde ist der Tod nicht mehr als eine Spielmechanik, genauer gesagt eine Spielregel. Unser virtueller Charakter stirbt als Konsequenz von Fehlern. Das kann eine falsche Tasteneingabe, Entscheidung oder Unaufmerksamkeit sein.
Die Frage: Wie profitieren wir davon? Voirol und Schendzielorz erläutern dafür drei Momente des Scheiterns: Irritation, Reflexion und Transformation. Wir handeln nach erlernten Mustern und Erfahrungen. Das macht es uns möglich, Aufgaben zu erledigen, Probleme zu bewältigen oder uns zu verständigen. Sind wir nicht dazu fähig die Situation zu meistern, scheitern wir. Ein Beispiel: Wir erreichen in Celeste eine Schlucht, verschätzen uns beim Sprung und die Spielfigur stürzt in die Tiefe. Wir sind irritiert, da bekannte Handlungen nicht zu dem gewünschten Ergebnis führen. Wollen wir es besser machen, müssen wir anschließend versuchen, „die Gründe des Scheiterns zu verstehen.“ Indem wir eine Lösung suchen, nutzen wir das Scheitern positiv. Ist es möglich, höher oder weiter zu springen? Was kann weiterhelfen? Haben wir die Ursachen gefunden, befinden wir uns im Moment der Transformation. Hier übersetzen wir die Erkenntnisse in neue Handlungsmöglichkeiten. Wir erkennen, dass wir uns mit Madeline an einer höheren Ebene festhalten können und damit die Entfernung verringern. Wir springen von der Wand ab und landen sicher. Scheitern zeigt uns unser Lernpotenzial, indem wir uns verändern, uns anpassen an die neue Situation.

Videospiele, die das Scheitern zelebrieren
Videospiele irritieren die Spieler*innen im Sinne des Scheiterns. Im Laufe des Spiels steigt die Schwierigkeit, meist mit jedem Abschnitt. Immer wieder durchlaufen sie die Phasen Irritation, Reflexion und Transformation. Manche Videospiele fordern Misserfolge geradezu heraus. Die Dark Souls-Spiele gehören dazu. In einem düsteren Fantasy-Setting durchstreifen wir eine Spielwelt voller Monster und erledigen Aufgaben. Die Spiele sind schwer, besonders ihre Endgegner. Gefahren lauern überall, das ist ihr Herausstellungsmerkmal. Suchen wir auf YouTube nach „Frustration“ und „Dark Souls“, finden wir eine Reihe unterhaltsamer Videos von Spielern, die mit ihrem virtuellen Tod hadern.
Einen besonderen Reiz hat der permanente Videospieltod, auch Permadeath genannt. In Spielen wie DayZ erhöht sich das Risiko durch den möglichen Verlust des ganzen Spielfortschrittes. In dem Survival-Horror-Spiel ist das Ziel simpel: Nur das Überleben zählt. In einem Walking-Dead ähnlichen Szenario erkunden wir Dörfer, versorgen uns mit Nahrung und verteidigen unsere Fundstücke gegen Zombies und andere Mitspieler. Sterben wir, verlieren wir alles. Jede Aktion ist also riskant. Das drohende Scheitern beeinflusst unser Vorgehen, da jederzeit unser gesamter Erfolg auf dem Spiel steht. Jede Begegnung mit einem anderen Mitspieler ist aufregend, denn wir wissen nicht, ob er Feind oder Freund ist. In Celeste scheitern wir so oft, dass wir uns daran gewöhnen. DayZ nimmt es ernster, es ist eine andere Herangehensweise. Doch letztlich sind die Konsequenzen auch hier nicht real, denn wir verlieren nur virtuellen Besitz und Fortschritt.
„Sei stolz auf deine Tode!“
Die Spieler*innen versagen ganz ungezwungen. Auf dem heimischen Sofa befinden wir uns in einer sicheren Umgebung. Wir haben Zeit, unser Scheitern in Ruhe zu erleben. Ohne Druck realer Konsequenzen zeigen Videospiele einen positiven Umgang mit dem Scheitern. Wir lernen, dass ohne Fehler kein Fortschritt stattfindet. Wir scheitern, um die Mittel zum Erfolg zu finden. Wir brauchen uns nicht davor zu fürchten. In der realen Welt kann diese Erfahrung nützlich sein, wenn wir z.B. unsere Aufgabe und Kollegen*innen im Büro missverstehen oder ein neues Projekt starten.
Mir geht es genauso, tagtäglich. Nehmen wir meine Selbständigkeit, sie ist das Ergebnis vieler Fehler, häufigen Fluchens und permanenten Lernens. Eigentlich ist es nie ein Weg gewesen, den ich mir vorgestellt habe. Zu groß ist die Angst vor Fehltritten, zu schwer wiegt die Frage: Was passiert, wenn das schief geht? Kunden gewinnen, sich rechtlich absichern, Qualität liefern und seinen Lebensunterhalt verdienen. Nichts, das man auf die leichte Schulter nimmt, aber auch nichts, das zurückhalten muss. In dem Enstehungsprozess habe ich oft an das Spiel Celeste gedacht. Mir hilft der Gedanke an das Spiel, Neues auszuprobieren und mich mit dem möglichen Scheitern anzufreunden.
Obwohl ich hundertfach sterbe, gibt mir Celeste nicht das Feedback: Historisches Desaster! Schäm Dich! Nein, stattdessen schickt es mir eine liebevolle Postkarte: „Sei stolz auf deine Tode! Je mehr du stirbst, desto mehr lernst du. Weiter geht’s!“

Hinweis: Die im Beitrag erwähnten oder verlinkten Spiele empfehle ich auf Basis meiner Recherche. Ich erhalte keine finanziellen oder wirtschaftlichen Vorteile durch die Nennung der Spiele.
Quellen:
- Verpflichtet auf Erfolg – Verdammt zum Scheitern. Selbstbewertung in Casting-Shows am Beispiel von „Deutschland sucht den Superstar“, Olivier Voirol und Cornelia Schendzielorz, in: Scheitern – Ein Desiderat der Moderne?, R. John, A. Langhof (Hrsg.), Innovation und Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-19181-2_3, Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
- „You Are Dead. Continue?“: Conflicts and Complements in Game Rules and Fiction, Jason Tocci: Eludamos. Journal for Computer Game Culture. 2008; 2; 2; 187-201: https://www.eludamos.org/index.php/eludamos/article/view/43/81 (letzter Abruf: 02.04.2020).
- Why do we have to die in games? Kate Bevan. The Guardian. Juli 2007: https://www.theguardian.com/technology/2007/jul/26/games.guardianweeklytechnologysection (letzter Abruf: 02.04.2020).
- Why permadeath is alive and well in video games, Ben Griffin. März 2014: https://www.gamesradar.com/why-permadeath-just-wont-die-video-games/ (letzter Abruf: 02.04.2020).
Spielereferenzen:
- Celeste: http://www.celestegame.com/ (letzter Abruf: 02.04.2020).
- Dark Souls: https://de.bandainamcoent.eu/dark-souls (letzter Abruf: 02.04.2020).
- DayZ: https://www.bohemia.net/games/dayz (letzter Abruf: 02.04.2020).
- YouTube-Referenz: https://www.youtube.com/results?search_query=frustration+dark+soul