Disclaimer: Erstveröffentlichung auf www.perspective-daily.de (6. November 2020)
Was tun Jugendliche, wenn sie sich per Kontakteinschränkungen kaum noch mit Freund:innen treffen und abhängen dürfen? Ganz klar, sie werfen ihren Computer an und zocken mit ihnen.
Kein Wunder, dass beliebte Games wie Fortnite gerade in der Coronakrise starken Zulauf haben. »Immerhin besser, als heimlich auf Coronapartys zu gehen« könnte man nun sagen. Doch diese Form der Beschäftigung hat eigene Risiken und Nebenwirkungen.
Die kürzlich veröffentlichte DAK-Längsschnitt-Studie »Mediensucht 2020 – Gaming und Social Media in Zeiten von Corona« warnt derzeit vor einer problematischen Videospielnutzung bei hochgerechnet fast 700.000 Kindern und Jugendlichen. Während Corona stiegen die werktäglichen Nutzungszeiten um fast 75%.
In der repräsentativen Längsschnittstudie wurden rund 1.200 Familien auf pathologische und riskante Mediennutzung bei Kindern und Jugendlichen untersucht. Die Studie führte das Deutsche Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am UKE Hamburg im Auftrag der DAK durch. Hier geht es zur Studie.1
Was aber tun, damit nicht während und nach Corona viele Jugendliche nur noch vor dem Bildschirm hängen?
Warum Fortnite gerade jetzt so faszinierend ist
Verrückte Tänze auf den Schulhöfen, 16-Jährige, die um Millionen Dollar Preisgelder kämpfen2 und ein Spieleentwickler, der damit Milliarden verdient3 – das beschreibt die Dimensionen von Fortnite. Es ist eines der erfolgreichsten Videospiele der Welt und gerade unter Jugendlichen im Alter von 12–17 Jahren ein Dauerbrenner.4
Bei Fortnite kämpfen 100 Spieler:innen alleine oder in Teams, ähnlich den Hunger Games aus der bekannten Bücher- und Filmreihe Die Tribute von Panem, einen Überlebenskampf aus – an dessen Ende nur eine Spielfigur übrig bleibt.
Das 2017 erschienene Fortnite: Battle Royale ist ein kostenloses Online-Multiplayer-Spiel aus dem Genre der First-Person- oder Survival-Shooter. Das Spiel ist auf allen Plattformen vom PC bis zur Konsole hin zum Smartphone erhältlich. Neben dem Battle-Royale-Modus sind auch andere Varianten, wie der Kreativmodus, Rette die Welt spielbar. Der Free-to-Play-Titel finanziert sich dabei hauptsächlich durch Ingame-Käufe, den sogenannten Mikrotransaktionen. Das Spiel hat eine USK-Altersfreigabe ab 12 Jahren, wobei die pädagogische Beurteilung des Spieleratgebers NRW dieses Spiel erst ab 14 Jahren empfiehlt.5
So spielt sich Fortnite
Im Battle-Royale-Modus springen die Spielfiguren aus einem fliegenden Bus auf eine Insel. Im bunten Comic-Look kämpfen sie dann gegeneinander, nur eine:r bleibt am Ende übrig. Die Spielwelt verkleinert sich im Minutentakt und zwingt die Kontrahenten an einem bestimmten Punkt in der Spielwelt schließlich zum Showdown. Die Spieler:innen müssen zunächst Waffen, Munition und Rohstoffe, wie etwa Holz, sammeln, womit sie Schutzmauern oder Türme bauen und sich so Vorteile verschaffen.
Das klingt nach Spannung und Nervenkitzel in einer Zeit, in der nahezu alles, was Spaß macht, dem Kampf gegen Corona weichen muss. Videospiele wie Fortnite bieten die Möglichkeiten des Austausches und der Alltagsflucht. Und mit Fortnite Mobile gibt es längst eine Version für Smartphones, die nahezu überall und jederzeit zocken lässt.
Doch auch das ist ein Aspekt dieser Spiele: Sie verlocken mit ausgefeilten Mechanismen dazu, einmal angefangen, immer mehr Zeit zu investieren. Fortnite ist etwa um den sogenannten »Battle Pass« aufgebaut, der über kleinere Aufgaben und Stufenaufstiege nach und nach kosmetische Belohnungen wie Outfits für die Spielfiguren freischaltet. Damit erleben Spieler:innen virtuell »Fortschritt« und stellen ihn zur Schau, während die Welt beim Warten auf das Impfmittel gerade stillzustehen scheint. Doch die erhöhten Nutzungszeiten können zu einer familiären Herausforderung werden. Eltern stehen oft vor der Frage, wie sie die Bildschirmzeiten ihrer Kinder verringern können – in und auch außerhalb der Pandemie.
Was also lässt sich konkret tun?
Analoge und digitale Welten verbinden – das geht!
An dieser Stelle muss gesagt sein: Nicht jede Mediennutzung ist problematisch. Das weiß auch Medienpädagoge Horst Pohlmann, der an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW den Fachbereich Medien leitet. Er versuchte schon vor der Pandemie, Jugendliche von Fortnite und Co. loszueisen – mit einer ganz eigenen Strategie. Er nimmt die digitalen Spiele als Vorbilder, um so die Interessen der Jugendlichen direkt anzusprechen. Das Ziel dabei ist die Entwicklung analoger Alternativen, die den digitalen Lieblingsspielen der Jugendlichen genug ähneln, um interessant zu sein. Denn allein analog etwas zu machen, macht schon den Unterschied:
Es ist etwas anderes, wenn Personen im Raum selbst Lösungen finden, miteinander auf Augenhöhe arbeiten und sich Ideen für die Umsetzung geben. Das sind andere Gruppenprozesse als in einem reinen Bildschirmspiel.Horst Pohlmann, Medienpädagoge
Auch Mimik, Gestik und Emotionen wirken, so Pohlmann, von Angesicht zu Angesicht anders als im digitalen Raum. Dabei bietet für den Medienpädagogen gerade Fortnite einen Ansatzpunkt für Projekte in der sogenannten Erlebnispädagogik.
Die spielerischen Elemente aus Fortnite, wie das Bewegen, Ausweichen und Deckung-Suchen, lassen sich laut Pohlmann in jeden Hindernisparcours einbauen. Auf der Videospielmesse Gamescom 2018 hat sich sogar der Spielehersteller selbst dieser Möglichkeit bedient, berichtet Pohlmann, und seinen Messestand zu einem realen Fortnite-Parcours gemacht, der einem großen Spielplatz ähnelte.6
Doch was tun bei schlechtem Wetter oder verschärften Kontaktbeschränkungen?
Pohlmanns Antwort: Auch für Zuhause gibt es viele Möglichkeiten. Eine davon nennt sich »Digitale Helden und ihre Geschichten«.7 Dabei wird eine Heldenfigur, zum Beispiel der eigene Fortnite-Charakter, zur Hauptfigur einer gemeinsam erzählten Geschichte: »Der Held springt aus dem Bus auf die Insel. Was passiert dann? Was sind die einzelnen Schritte des Helden? Wen trifft er da? Wo lauert er?« Das Ganze erinnert stark an klassische Erzählspiele oder Tischrollenspiele. Außerdem seien digitale Spiele die perfekte Vorlage für selbst entwickelte Brettspiele, so Pohlmann.
Dass die Jugendlichen dies nicht von allein tun und lieber wieder die Games starten, dürfte auch klar sein. Hier sind die Eltern gefragt. Diese 5 Ratschläge hat der Medienpädagoge für sie:
- Ernsthaftes Interesse zeigen: Abwertende Aussagen gegenüber den Interessen der Jugendlichen wie »Du spielst ja schon wieder diesen Mist« werden jeglichen Austausch über das Spiel im Keim ersticken.
- Mitspielen: Die Reize des Games selbst zu erfahren und die Perspektive der Spieler:innen anzunehmen schafft Verständnis für das Spiel und das eigene Kind. Eine weitere Informationsquelle bieten kommentierte Videos, sogenannte Let’s Plays.
- Regeln erklären lassen: Um aus dem digitalen Vorbild eine analoge Alternative zu entwickeln, muss man den Reiz und die Regeln verstehen. Was ist das Ziel? Was kann ich machen, was nicht? Hier können Eltern auf die Expertise der Jugendlichen zurückgreifen. Denn auf diesem Gebiet sind sie die Profis.
- Zeit und Raum schaffen: Die digitalen Games sind zu jeder Zeit verfügbar. Ein eigenes Spiel muss jedoch erst noch entwickelt werden, und das kostet Zeit. Hier müssen Eltern den Raum zum Experimentieren und Zusammenarbeiten schaffen.
- Belohnungen ausarbeiten: Belohnungssysteme sind ein Hauptanreiz vieler Spiele wie Fortnite. Sie motivieren dazu, am Ball zu bleiben und Aufgaben zu übernehmen. Darin liegt eine Stärke des analogen Spiels in der Familie, denn Eltern könnten Belohnungen individuell anpassen – wie zum Beispiel eine Verlängerung der Videospielzeit am Wochenende.
Die größte Herausforderung ist die Motivation
Doch die große Frage für die Eltern bleibt an dieser Stelle noch unbeantwortet: Lässt sich mein Kind mit diesen Ideen tatsächlich vom Bildschirm weglocken? Gerade im Familienkontext, so Horst Pohlmann, werde es ab einem bestimmten Alter schwierig, die Jugendlichen zu motivieren. Der natürliche Abgrenzungsprozess von den Eltern, vor allem in der Pubertät, kann hier zu einer Abwehrhaltung führen. Pohlmann habe jedoch noch keine Kinder oder Jugendliche erlebt, »die nicht begeistert von einem Spiel erzählt haben«. Und diese Begeisterung können Eltern nutzen, um gemeinsam neue Abenteuer zu erleben.
Quellen und weiterführedne Links zum Artikel
- Mediensucht 2020 – Gaming und Social Media in Zeiten von Corona: DAK-Längsschnittstudie: Befragung von Kindern, Jugendlichen (12 – 17 Jahre) und deren Eltern; (15. Mai 2020)
- Epic Games, die Firma hinter Fortnite, schrieb auf ihrer Website die Preisgelder für ihre Weltmeisterschaft aus (englisch, 2019)
- Hier finden sich viele Zahlen und Daten rund um digitale Spiele aus dem vergangenen Jahr (englisch, 2019)
- Die JIM-Studie liefert jährlich Daten zur Mediennutzung von Jugendlichen in Deutschland (PDF)
- Spieleratgeber NRW Fortnite: Battle Royale
- The Verge vermittelt einen kleinen Eindruck von dem Fortnite-Themenpark (englisch)
- Alle Infos zum Projekt, das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wird, findest du hier